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Es ist ein Verdienst des frühen Niklas Luhmann, die → Komplexität zur Zentralkategorie der Systemtheorie gemacht zu haben. (Vgl. die 3 Sammelbände seiner Aufsätze zur 'Soziologischen Aufklärung', 1974, 1995, 1981) Systeme erschienen ihm damals als Einheiten, die sich von ihrer Umwelt durch eine reduzierte Komplexität auszeichnen. Das Komplexitätsgefälle - und damit eine System-Umweltbeziehung - erscheint als dominantes Definitionskriterium für Systeme. Dies zieht sich bis zum Erscheinen von 'Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie' 1984 durch.
Die Definitionsversuche der Komplexität sind allerdings, an vielen Stellen verstreut, unverbunden und letztlich strukturalistisch, d.h. auf die Komposition von Elementen und Beziehungen - unter Außerachtlassen der Ebenen - reduziert: "Als komplex wollen wir eine zusammenhängende Menge von Elementen bezeichnen, wenn auf Grund immanenter Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element mit jedem anderen verknüpft sein kann." (Luhmann 1984, S.46) Logisch wäre zu folgern, daß Systeme - als von reduzierter Komplexität - dann vorliegen, wenn alle Elemente untereinander verknüpft sind - und folglich auch keine Beziehungen nach Außen, zur Umwelt vorliegen. Aber diese qualitative Unterscheidung wird unterlaufen, indem auch den Systemen Komplexität zugesprochen wird. Möglich sind dann nur quantitative Unterschiede, was dann eine Klassifikation von Quantität ernötigt - die ausfällt.
Wenn man Komplexität an Strukturen bindet, besteht weiterhin immer die Gefahr, die Dynamik zu vergessen. (Sie wird verringert, wenn man auch Ereignisse als Element zuläßt und deren Verkettung als Prozeß modelliert - was das NTD® tut.) Man beschäftigt sich mit der relativ stabilen Phase, in dem konstituierte Systeme ihre Funktion erfüllen. Wenn man die Zeit einführt, dann bleibt diese leer, solange sie nicht skaliert wird. Einer Skalierung der Zeit - oder der Zeiten, wenn denn eine Typologie vorliegt - der Systeme weichen die strukturbasierten Systemtheorien aus. Mindestens Phasen der Systemgestaltung könnte man erwarten.
Wenn die System-Umweltdifferenz tatsächlich konstitutiv für das Operieren von Systemen - und deren Identität - ist, dann verlangt dies a) nach einer gleichgewichtigen Behandlung der beiden Pole Umwelt und System und b) nach einer Klärung der Relation. Denn jede Beziehung setzt nun einmal mindestens Relata und Relationen voraus und wird erst eindeutig bestimmbar, wenn auch die Richtung feststeht. Und die System-Umwelt-Beziehung kennt jedenfalls die Richtung von der Umwelt in das System, was gemeinhin als Input bezeichnet wird und die Richtung aus dem System in die Umwelt, was 'Output' genannt wird. Sie besitzt vektoriellen Charakter.
Nachdem es anfangs durchaus Versuche gab, zumindest intersystemische Relationen - etwa mit dem Konzept der 'Interpenetration' zu modellieren, gewann langsam die theoretische Entscheidung, die System-Umwelt-Beziehungen nicht zu modellieren, einzig einen nicht operationalisierten Unterschied zu behaupten und dann unter der normativen Prämisse der Geschlossenheit von Systemen weiter zu arbeiten, die Oberhand. Systembildung erfordert jedoch - klarerweise - nicht nur Abgrenzung sondern auch Grenzübergängen, die In- und Output ermöglichen und den Erhalt/die Kontrolle und ggfs. die Anpassung von Grenzen.
Komplexitätsreduktion statt Komplexitätsbewältigung
Jede Systembildung, so Luhmanns These, reduziert Umweltkomplexität. Aus Sicht des NTD ist dies zwar richtig, aber nur ein Drittel der Wahrheit: Komplexitätsbewältigung erfordert sowohl die Steigerung als auch die Verminderung als auch den Erhalt von Komplexität. Oberbegriff der Modellierung ist für das NTD Komplexitätsbewältigung und nicht Komplexitätsreduktion.
Luhmann kann natürlich nicht abstreiten, daß es Steigerung von Komplexität gibt - aber diese kann er nur auf Basis von dialektischen Hegeleien 'modellieren': Steigerung von Komplexität durch Reduktion von Komplexität, ...zwischen Steigerung von Komplexität und Reduktion von Komplexität [besteht] keine Ausschließungs-, sondern ein Bedingungsverhältnis (Systemtheoretische Argumentationen, 1975i, S.309 ff) Dabei bleibt es auch später. In der 'Gesellschaft der Gesellschaft' 1997 spricht er von der Paradoxie: "Komplexität ist die Einheit einer Vielheit." (S.136) Einer analytischen Trennung verweigert er sich. Daß jede Beobachtung einer 'Steigerung' von Komplexität in einer konkreten Praxis als ein 'Vermindern' einen Perspektivwechsel - einen Wechsel des Bezugssystems und der Bewertungsmaßstäbe - des Beobachters voraussetzt, findet keine Berücksichtigung.
In jeder konkreten Praxis mit ihrer orientierungsrelevanten Funktion ist ein Mehr ein Mehr und ein Vermindern ein Vermindern. Die Stärken einer Person sind diese nur in Bezug auf bestimmte Aufgaben, nur in Bezug auf andere Aufgaben können es Schwächen sein. Die Dialektik erspart die Analytik.
Von der Sozialtheorie zur Theorie des Beobachtens
Beschleunigt durch die Begegnung mit Humberto Maturana („Anything said is said by an observer.“) im WS 1986 in der Universität Bielefeld, beginnt der Umbau der Soziologie als Lehre von der Verwaltung des Sozialem zu einer Theorie des Beobachtens von sozialen Einheiten durch einen Beobachter, zusammengefaßt u.a. 1997 in den zwei Bänden 'Die Gesellschaft der Gesellschaft'. Die Prämierung der Beobachtung - und damit auch des Beobachters - stuft die Kategorie der Komplexität im Theorieaufbau herunter, ohne daß die strukturalistische Essenz (Elemente und Relationen) verlorengeht.
Komplexität ist informative Komplexität, und sie kann von Beobachtern wahrgenommen werden. Insoweit stimmt das NTD mit den konstruktivistischen Theorien überein. Es unterscheidet sich, indem es Komplexität an diedrei Praktiken und darüber an die Praxis bindet und nicht - wie N. Luhmann - an die Subkategorie ‘Beobachten’ der Subkategorie ‘Beobachter der Praxis'.
"Als Instrument des Beobachtens und Beschreibens kann der Begriff der Komplexität auf alle möglichen Sachverhalte angewandt werden, sofern nur der Beobachter in der Lage ist, an dem Sachverhalt, den er als komplex bezeichnet, Elemente und Relationen zu unterscheiden ." (1997, Bd. 1, S.138) "Ohne Beobachter gibt es keine Komplexität." (a.a.O., S.144) Der Triadiker würde ergänzen: Aber mannigfaltige Eigenschaften der Dinge, die sich zu komplexen Daten transformieren lassen.
Komplexität ist ein Zentralbegriff zum Verständnis und zur Gestaltung der Praxis - und nicht nur zur Beobachtung der Systeme bzw. der systemischen Phase der Praxis. Der Praktiker emergiert nicht nur als Wahrnehmender sondern gleichzeitig auch als Handelnder und Denker. Man kann die Beobachtung nicht gestalten, wenn man nicht erdachte Programme verwendet und sich durch Handeln in Interaktionspositionen zum Objekt begibt.
Die Definitionen der Grundbegriffe werden beim späten Luhmann immer weitläufiger, die Paradoxien nehmen zu und am Ende wird die Unsinnigkeit der Definition der Grundbegriffe festgestellt. Man kann noch weiter gehen. Am Ende spielt der Systembegriff keine entscheidende Rolle mehr. An seine Stelle tritt in der mittleren Phase der Beobachter, der unterscheidet. Schließlich wird der Beobachter zur puren Metapher für den Unterscheider und den Vergleicher - also zum einsamen und in seinen Programmen unziemlich reduzierten Denker.
Systeme sind dann nur die Folge von Unterscheidungsoperationen. Das können auch Unterscheidungen von Unterscheidungen sein. Spätestens dann ist es unsinnig vom 'Beobachter' zu sprechen. Hier wird gedacht. Schon merkwürdig, daß das Unterscheiden vor der Unterscheidung zwischen Wahrnehmen und Denken Halt macht.
Es ist schon erstaunlich, wie sich die letztlich positivistische Erkenntnistheorie, die den Wahrnehmenden und seine Daten in solche Höhen hebt, im Denken Luhmanns durchsetzen und auch in einer Nische des Wissenschaftssystems erhalten konnte.
Zumindest ein psychodynamischen Grund liegt auf der Hand, die Abgrenzung von Talcott Parsons, dem theoretischen Vorbild Luhmanns: In quasi gegenabhängigem Verhältnis tauscht Luhmann die 'action', durchaus im Sinne von Handeln, als Kristallisationspunkt der Parsonschen Systemtheorie durch die 'Beobachtung' aus.
Ebenso erstaunlich ist die Wiedergeburt der Selbstschöpfung, der 'Entelechie' im Gewand der 'Autopoiesis' und die Rechtfertigung 'monadischer' Existenzen durch allerlei 'operative Schließungen' im Herbst des Schaffens Luhmanns: Je talentierter die Denker für die Selbstbeobachtung sind, desto leichter schließen sich ihre Operationen tatsächlich zu Kreisen, die Außenwelt emergiert am Ende nur noch als Innenwelt.
Literatur
Habermas, J./Luhmann, N. (1975): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt/M.
Luhmann, Niklas (1969): Legitimation durch Verfahren. Neuwied/Berlin.
Ders. (1973): Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. Stuttgart
Ders. (1974a): Soziologische Aufklärung. Bd. 1: Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme. Opladen (4. Auflage).
Ders. (1974b): Funktionale Methode und Systemtheorie. In: Ders. (1974a).
Ders. (1974c): Reflexive Mechanismen. In: Ders. (1974a).
Ders. (1974d): Soziologie als Theorie sozialer Systeme. In: Ders. (1974a).
Ders. (1975a): Soziologische Aufklärung. Bd. 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. Opladen.
Ders. (1975b): Interaktion, Organisation, Gesellschaft. In: Ders. (1975a).
Ders. (1975c): Einfache Sozialsysteme. In: Ders. (1975a).
Ders. (1975d): Allgemeine Theorie organisierter Sozialsysteme. In: Ders. (1975a).
Ders. (1975e): Selbstthematisierungen des Gesellschaftssystems. In: Ders. (1975a).
Ders. (1975f) Komplexität. In Ders.(1975a)
Ders. (1975g): Systemtheorie, Evolutionstheorie und Kommunikationstheorie. In: Ders. (1975a).
Ders. (1975h): Sinn als Grundbegriff der Soziologie. In: Habermas/Luhmann, 1975, 25-100.
Ders. (1975i): Systemtheoretische Argumentationen. Eine Entgegnung auf Jürgen Habermas. In: Habermas/Luhmann, 1975, 291-405.
Ders. (1981a): Soziologische Aufklärung. Bd. 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen.
Ders. (1981b): Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme. In: Ders. (1981a).
Ders. (1981c): Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. In: Ders. (1981a).
Ders. (1981d): Erleben und Handeln. In: Ders. (1981a).
Ders. (1981e): Schematismen der Interaktion. In: Ders. (1981a).
Ders. (1981f): Interpenetration – Zum Verhältnis personaler und sozialer Systeme. In: Ders. (1981a).
Ders. (1981g): Symbiotische Mechanismen. In: Ders. (1981a).
Ders. (1984): Soziale Systeme, Frankfurt/M.
Ders. (1986): Ökologische Kommunikation. Opladen.
Ders. (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2.Bde, Frankfurt/Main.
Maturana, Humberto R. (1982): Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig/Wiesbaden.